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Warum lange Halme im Getreideanbau mehr als nur Nostalgie sind

Warum lange Halme im Getreideanbau mehr als nur Nostalgie sind


Wer im Sommer durch die Landschaft streift und reifende Getreidefelder betrachtet, dem fällt eine Veränderung auf: Die Felder sehen nicht mehr aus wie vor 50 Jahren. Besonders ältere Menschen erinnern sich daran, wie hoch das Getreide damals wuchs – deutlich über einen Meter, oft sogar bis zu zwei Meter hoch. Heute hingegen stehen die Halme oft nur noch 25 bis 30 cm über dem Boden.


Diese Entwicklung ist das Ergebnis gezielter Pflanzenzüchtung: Durch kürzere Halme kann das Getreide mehr Düngemittel aufnehmen, wächst kompakter und ist weniger anfällig für das sogenannte „Lager“ – das Umknicken der Halme unter Wind oder Regen. Zudem erleichtert die geringere Höhe die maschinelle Ernte. Auf den ersten Blick scheinen all dies klare Vorteile zu sein.

Doch die Natur hat sich beim langen Halm durchaus etwas gedacht. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass die ursprüngliche Wuchshöhe des Getreides viele agronomische Vorteile bietet, die in der modernen Landwirtschaft oft übersehen werden.

Schutz vor Pilzbefall und bessere Durchlüftung

Getreide mit langen Halmen ist weniger anfällig für Pilzkrankheiten. Der Grund dafür liegt in der besseren Luftzirkulation: Je höher die Ähre sitzt, desto weiter ist sie vom feuchten Boden entfernt, auf dem sich Schimmel- und Pilzsporen leicht vermehren. Studien zeigen, dass moderne, kurzhalmige Getreidesorten häufiger von Mehltau, Rostpilzen und Fusarium-Befall betroffen sind, da die dichte Pflanzung und die geringe Höhe das Mikroklima feucht und stickig halten (Köpke & Nemecek, 2010).

Ein Beispiel für robuste, hochwachsende Sorten ist der Huron-Weizen, dessen Halme bis zu 2,5 Meter erreichen können. Diese Pflanzen stehen stabil und weisen geringere Pilzbelastungen auf – ein klarer Vorteil, insbesondere in feuchten Anbaugebieten.

Bessere Wassernutzung und Dürretoleranz

Ein weiterer Vorteil langer Halme ist ihre überlegene Wasserregulierung. Dank tiefreichender Wurzelsysteme können diese Pflanzen Wasser aus tieferen Bodenschichten aufnehmen und effizient speichern. In Zeiten zunehmender Dürreperioden ist dies ein entscheidender Faktor für stabile Erträge.

Forschungen belegen, dass langhalmige Sorten in trockenen Jahren höhere Erträge erzielen als kurzhalmige – besonders in Regionen mit unregelmässigen Niederschlägen (Blum, 2011). Während moderne Sorten bei Wassermangel frühzeitig vertrocknen, bleiben hochwachsende Getreidearten wie Huron, Emmer, Einkorn oder andere alte Weizenarten länger vital.

Förderung der Bodenfruchtbarkeit durch Stroh und Wurzeln

Ein oft übersehener Faktor ist der Beitrag langer Halme zur Bodenfruchtbarkeit. Das zusätzliche Pflanzenmaterial sorgt für eine höhere organische Masse, die nach der Ernte in den Boden eingearbeitet werden kann. Dies fördert das Bodenleben, verbessert die Wasserhaltefähigkeit und trägt zum Humusaufbau bei – essenziell für die nachhaltige Landwirtschaft.

Ein gesunder Boden mit hohem Humusgehalt kann bis zu fünfmal mehr Wasser speichern als humusarmer Boden und bindet zudem CO₂ aus der Atmosphäre (Montgomery, 2017). Langhalmige Sorten leisten somit nicht nur einen Beitrag zur besseren Bodenstruktur, sondern auch zum Klimaschutz.

Genetische Vielfalt als Versicherung für die Zukunft

Die moderne Agrarindustrie hat sich auf wenige Hochleistungssorten konzentriert, die auf Ertrag und Resistenzen gegen bestimmte Krankheiten gezüchtet wurden. Das Problem: Diese genetische Verarmung macht unser Nahrungssystem anfälliger für neue Schädlinge oder Krankheiten, gegen die diese Hochleistungssorten keine Abwehrkräfte besitzen.

Der Anbau alter, genetisch vielfältiger Getreidesorten – wie sie beispielsweise von ursaat.ch angeboten werden – erhöht die Resilienz der Landwirtschaft. Die Mischung aus genetisch unterschiedlichen Pflanzen sorgt für eine natürliche Resistenz gegen Umweltstressoren und reduziert den Bedarf an chemischen Pflanzenschutzmitteln.

Geschmack und Nährstoffgehalt: Mehr als nur Ästhetik

Neben agronomischen Vorteilen bietet ursprüngliches Getreide oft höhere Gehalte an Mineralstoffen und sekundären Pflanzenstoffen als moderne Weizensorten. Untersuchungen zeigen, dass alte Getreidesorten wie Einkorn oder Emmer deutlich mehr Magnesium, Eisen, Zink und Antioxidantien enthalten als moderne, auf Ertrag optimierte Weizenarten (Serpen, 2008).

Zudem wird der Geschmack traditioneller Sorten oft als intensiver beschrieben. Wer einmal ein Brot aus Urweizen probiert hat, wird den Unterschied schmecken – das Aroma ist oft nussiger, erdiger und vollmundiger als das von standardisiertem Weizen.

Warum wir den langen Halm nicht vergessen sollten

Die Reduzierung der Halmlänge in der modernen Landwirtschaft wurde vor allem aus Effizienzgründen vorangetrieben. Doch die Forschung zeigt, dass der lange Halm nicht nur eine nostalgische Erinnerung an frühere Zeiten ist – er bietet handfeste ökologische, agronomische und ernährungsphysiologische Vorteile.

Für alle, die traditionelle, nährstoffreiche und nachhaltige Getreidesorten ausprobieren möchten, bietet ursaat.ch eine Auswahl an originalgetreuen Sorten – ein Stück landwirtschaftliche Geschichte für die Zukunft unserer Ernährung.


Kai Isemann

Ursprünglich aus der Finanzwelt kommend, begleite ich seit 2012 Menschen und Organisationen in sozial-ökologischer Transformation – besonders dort, wo Wirtschaftlichkeit und Gemeinwohl scheinbar im Widerspruch stehen. Mein Fokus liegt auf der agrarökologischen Entwicklung und der Gestaltung nachhaltiger Wertschöpfungskreisläufe.

Ich arbeite strikt nach dem Triple Bottom Line Modell. 1) Ist es gut für die Umwelt? 2) Ist es gut für die Menschen? 3) Ist es wirtschaftlich tragfähig? Und zwar in dieser Reihenfolge!

Mit interdisziplinären Ansätzen vereine ich Ökonomie, Agrarökologie und Gesellschaft, um regenerative Lösungen für Landwirtschaft und Kapitalallokation zu entwickeln.


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